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Gedanken eines Y

In einem Leben, in dem ich alles machen könnte, unzähliges machen möchte und mich für weniges entscheiden muss, ist die Überforderung nicht weit. Denn ein Ja zu einer Sache bedeutet ein Nein zu allen anderen – die Verzichtskosten steigen mit jeder neuen Möglichkeit. [1]

Möchte ich lieber alleine wohnen oder zusammen mit anderen Menschen, möchte ich arbeiten oder doch lieber noch etwas studieren, möchte ich jetzt schon Kinder oder erst wenn ich einige Jahre Berufserfahrung habe oder überhaupt keine, möchte ich in Nepal wandern gehen oder lieber im Jura oder vielleicht doch lieber Inselhopping in der Karibik? Und wenn es mir irgendwo gefällt, dann kauf ich mir ein Stück Land, bau ein kleines Häuschen und arbeite als Online Freelancer und Landwirt auf der kleinen Farm neben meinem Haus.

Wer sagt mir denn endlich, was richtig ist? Habe ich die korrekte Lösung gefunden? Habe ich den Lösungsweg richtig hergeleitet? Hallo, ist da jemand?

Unser Bedürfnis, zu hören, dass wir richtig handeln, gründet auf der Erziehungs- und Lernkultur, die wir erlebt haben – in der Schule, Zuhause, auf der Arbeit. Wie sollen wir mit dieser Freiheit und Unsicherheit plötzlich umgehen können, wenn jegliche „wichtige“ Tätigkeiten uns bis anhin vorgegeben und hinterher sogar bewertet wurden. Wie können wir wissen, was uns begeistert, wenn wir die letzten Jahre kaum Zeit dafür haben aufbringen können, unseren Interessen nachzugehen oder sie überhaupt kennenzulernen – denn diese wurden als nicht-prioritär, also ausserhalb der „wichtigen“ Tätigkeiten verortet.

Die Schule soll den Bildungsauftrag erfüllen, die Schüler auf das Leben vorzubereiten. Das setzt sie auch um, nur gehört dieses Leben schon längst der Vergangenheit an. Die Gesellschaft hat sich verändert, durch Entwicklungen in der Technologie, durch neue soziale Herausforderungen, durch die sich globalisierende Welt… Die Veränderung an sich ist nichts neues, die zunehmende Geschwindigkeit ihrer Entwicklungen jedoch schon.

Was die Schule unterrichtet, wird in kürzester Zeit – spätestens wenn die Schüler die Bildungsstätte verlassen haben – ohnehin veraltet sein. Das Fortbestehende besteht viel mehr darin, von Grund auf zu lernen, wie wir uns Wissen aneignen können, wie wir es einordnen und wie es auf andere Gebiete übertragen werden kann. Das WIE steht im Mittelpunkt, weniger das WAS. Wenn wir uns diese Fähigkeiten angeeignet haben, können wir diese Vorgehensweise auf andere Lerngebiete und -themen übertragen.

Der Inhalt des Gelernten steht nicht mehr an erster Stelle, nicht dass dieser an Wert verloren hat, jedoch ist es nicht mehr die Hauptaufgabe der Schule, vorgefertigtes Wissen zu predigen. Das Sachwissen wird nebenbei erworben, wenn jeder Schüler auf seine eigenen Interessen eingehen und Themen behandeln kann, die ihn begeistern. Unterricht – wie er heute an den meisten Schulen stattfindet, wo der Lehrer Wissen preisgibt und die Schüler versuchen das Gesagte möglichst genau wiederzugeben – nimmt einen anderen Stellenwert ein.

Die Welt wandelt sich! Und mit ihr die Arbeitswelt. Verschiebungen im Arbeitsmarkt, Entstehung von neuen (Nicht-)Hierarchien, der Anspruch an Sinnhaftigkeit und Erfüllung durch die Arbeit verlangen immer öfter „selbstdenkende Menschen“ und keine „ausführenden Arbeitstiere“.

Eine der grundlegenden Begabungen des Menschen ist die Fähigkeit zur Neugier. Sie treibt uns an, sie lässt uns Dinge hinterfragen – sie rettet uns vor Stagnation, da wir durch körpereigene Opiate angetrieben werden, immer wieder Neues zu lernen. Leider scheint die Neugier oft nicht in das Konzept der heutigen Schule weder in jenes der Arbeitswelt zu passen oder sie wird gar als störend empfunden, da die neugierigen Fragen nicht unterrichts- bzw. arbeitsrelevant sind.

Irgendwas läuft doch da schief! Die Welt scheint durch ihre Entwicklungen an uns vorbei zu rasen, unsere alltäglichen Aufgaben in Schule und Beruf scheinen der Vergangenheit anzugehören – und wir? Uns zerreisst es beinahe. Wir wissen nicht mehr, was wir wollen sollen.

 

[1] Dieser Text verdeutlicht die Perspektive und Situation eines Bewohners der ersten Welt der sogenannten Generation Y (Jahrgänge 1980-1995).

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